Vor dem Grabtuch
„Wer hat Christus der Kreuzigung übergeben? Etwa besondere Bösewichter? Nein. Es waren gewöhnliche Leute, die um die politische Unhabhängigkeit ihres Landes fürchteten, Leute, die nichts riskieren wollten, für die ihr Wohlstand wichtiger war als das eigene Gewissen oder die Wahrheit, Leute, denen nur eins wichtig war, nämlich dass das unstabile Gleichgewicht ihres Wohlergehens als Sklaven nicht zerstört würde. Doch wer von uns kennt dies nicht auch aus seinem eigenen Leben?" - aus einer Predigt am Karfreitag von Metropolit Antonij von Sourozh.
Статья

Karfreitag 1967

All unsere Hoffnung setzen wir Menschen nach Gott auf die Fürsprache der Gottesmutter. Wir sagen dies oft ziemlich so dahin und es scheint für uns ganz normal zu sein. Dabei sind diese Worte im Angesicht dessen, was gestern und heute passiert ist, unendlich grausam. Entweder drückt dieser Satz einen unerschütterlichen Glauben an die Gottesmutter aus oder er zeigt, dass wir in der Tat im Verlaufe unseres Lebens noch nicht in aller Tiefe verstanden haben, was es wirklich bedeutet, die Gottesmutter um Hilfe zu bitten.

Vor uns steht das Grab des Herrn. In ihm liegt in Seinem menschlichen Leib der Sohn der Jungfrau, geschlagen, zerschunden und voller Wunden. Er ist tot. Er ist gestorben nicht nur, weil irgendwelche Leute, die voller Hass gegen Ihn waren, Ihn irgendwanneinmal in der Geschichte getötet haben. Er ist wegen jedem und für jeden von uns gestorben. Jeder von uns trägt in sich ein Teil der Verantwortung für das, was passiert ist, dafür, dass Gott selbst Mensch geworden war und selbst Tod und Leiden auf Sich genommen hat, weil Er es nicht ausgehalten hatte, dass der Mensch sich von Ihm abgewandt und wie ein Waise an der Welt litt. Jeder von uns ist mitverantwortlich, dass Gott unter den Menschen nicht die Liebe, nicht den Glauben, nicht die herzliche Aufnahme gefunden hat, die die Welt gerettet hätten und durch die die tragischen Tage der Karwoche und der Tod Christi auf Golgatha nicht nötig gewesen wären.

Sagt mir: Sind auch wir dafür verantwortlich? Wir haben doch damals nicht gelebt? Ja, schon! Wir haben damals nicht gelebt, doch wenn der Herr jetzt auf unserer Erde erscheinen würde, will dann etwa einer von uns behaupten, dass er besser handeln würde als die, die Ihn damals nicht erkannt haben? Die Menschen haben Ihn damals nicht gemocht, sie haben Ihn abgelehnt, sie haben Ihn aus ihrer Mitte verstoßen und am Kreuz elendig sterben lassen, damit die Klarheit Seiner Lehre und ihr Gewissen ihnen keine unangenehmen Fragen stellen möge. Es scheint uns oft, dass die Leute, die damals die Täter waren, grausame Leute waren. Was sehen wir aber, wenn wir sie näher betrachten?

Wir verstehen dann, dass es wirklich furchtbare Menschen waren. Furchtbar jedoch in ihrem Mittläufersein und in ihrer Kleinkarriertheit, was auch uns sehr eigen ist. Sie waren ebensolche Menschen wie wir. Ihr Leben war viel zu eng, als dass Gott in ihnen Raum hätte finden könnte, ihr Leben war viel zu kleinkarriert, dass jene Liebe, von der Gott spricht, in ihnen die nötige Weite und schöpferische Energie hätte finden können. In dem Leben, wie sie es führten, hätten entweder alle Nähte aufplatzen müssen, damit es zu seiner voller Größe heranwachsen hätte können, um der eigentlichen Idee vom Menschsein zu entsprechen oder aber Gott hätte aus diesem Leben endgültig ausschlossen werden müssen. Und genau dies haben die Leute getan, so wie wir es auch heute täglich tun.

Ich behaupte, so wie wir es auch heute täglich tun, weil auch wir unzählige Male in unserem Leben so handeln, wie der eine oder der andere von denen, die an der Kreuzigung Christi Anteil hatten,  verfahren sind. Schaut euch Pilatus an: Worin unterscheidet es sich von jenen Dienern des Staates, der Kirche oder der Öffentlichkeit, die das menschliche Urteil, die Unordnung und die Verantwortung mehr als alles andere fürchten und die, um ihre eigene Position zu sichern, bereit sind, einen Menschen zu Grunde gehen zu lassen (meist im kleinen, aber machmal auch im sehr großen Maßstab)? Sehr oft lassen wir es geschehen, dass ein Mensch verdächtigt wird, angeblich ein Verbrecher, ein Lügner, ein Betrüger oder eine lasterhafte Person zu sein, weil wir uns davor fürchten, mit aller Konsequenz selbst unsere Verantwortung zu tragen. Nichts anderes hat Pilatus getan. Er hat einfach nur versucht, seinen Posten zu halten, bei seinen Vorgesetzen nicht in Ungnade zu fallen, von seinen Untergebenen verehrt zu werden und jegliche Aufruhr zu verhindern. Obwohl er zugegeben hat, dass Christus unschuldig ist, hat er Ihn dem Tod übergeben.

Auch um ihn herum sehen wir viele ebensolche Leute. Die Soldaten zum Beispiel. Ihnen war alles gleich, wer dort gekreuzigt wird. Sie trugen dafür keine Verantwortung, sie hatten nur einen Befehl auszuführen. Wie oft geschieht solches auch unter uns? Wir erhalten eine Order, die auch ethische Momente berührt und für die auch wir uns vor Gott verantworten werden müssen und wir entgegnen: Dafür tragen nicht wir die Veranwortung. So wie Pilatus, der sich die Hände wusch, als er zu  den Juden meinte, dass sie die Verantwortung für alles trügen. Die Soldatan haben einfach nur die Befehle ausfgeführt und dabei einen Menschen getötet, ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, wer denn Der am Kreuz überhaupt ist. Er war ein einfach nur Verurteilter ...

Doch die Soldaten haben Ihn nicht nur getötet, sie haben nicht nur ihren scheinbaren Befehl ausgeführt. Pilatus hat ihnen Jesus ausgeliefert, dass sie Ihn verpotten mögen. Wie oft, ja wie oft hat jeder von uns schon in sich die Lust erlebt, einen Menschen zu beschimpfen, einem Menschen seiner Ehre zu berauben, über jemandes Leid zu lachen und so zu dem Kummer dieses Menschen noch einen weiteren Schlag obendrauf zu setzen, ihm noch eine weitere Ohrfeige zu verpassen und eine nächste Kränkung. So in Wut geraten, ist unser Blick dann sicher auch plötzlich auf den Menschen gefallen, den wir erniedrigt haben, und wir haben ihn gesehen, wie dieser erschlagen und zugerichtet vor uns stand. Viele von uns haben dann sicherlich auf ihrer eigene Weise, ihm, so wie es die Soldaten und die Diener des Kaifas getan hatten, die Augen verbunden, um Ihn weiter mit Schlägen zu quälen. Und wir? Wie oft verbinden auch wir mit unserem Tun Gott quasi die Augen, damit wir in Ruhe und ohne eine Strafe erwarten zu müssen, einen Menschen oder vielleicht Christus selbst ins Gesicht schlagen können. ...

Wer hat Christus der Kreuzigung übergeben? Etwa besondere Bösewichter? Nein. Es waren gewöhnliche Leute, die um die politische Unhabhängigkeit ihres Landes fürchteten, Leute, die nichts riskieren wollten, für die ihr Wohlstand wichtiger war als das eigene Gewissen oder die Wahrheit, Leute, denen nur eins wichtig war, nämlich dass das unstabile Gleichgewicht ihres Wohlergehens als Sklaven nicht zerstört würde. Doch wer von uns kennt dies nicht auch aus seinem eigenen Leben?

Man könnte nun auch alle anderen aufzählen. Doch wird nicht bereits aus den genannten Beispielen klar, dass die Leute, die Christus getötet haben, ebensolche Menschen waren wie wir, dass sie von den gleichen Ängsten und Lüsten, von der gleichen Kleinkariertheit getrieben waren, die auch uns gefangen halten? Und so stehen wir nun vor diesem Grab und sollten uns eingestehen - ich gestehe es, und ich würde so gerne, dass jeder von uns sich dessen bewußt würde, dass wir froh sein können, dass nicht wir diese furchtbare Probe der Begegnung mit Christus damals zu bestehen hatten. Denn jeder von uns hätte so irren, Christus hassen und mit der Masse das „Kreuzige, Kreuzige Ihn" schreien können.

Die Mutter stand am Kreuz. Ihr Sohn, verraten, beschimpft, ausgestoßen, geschlagen, zerschunden und gequält starb am Kreuz. Und auch sie ist mit Ihm am Kreuz „mitgestorben". Viele haben sicher auf Christus geschaut, viele haben sicher Scham empfunden und waren erschrocken. Doch das Gesicht der Mutter haben sie nicht gesehen. Wir jedoch wenden uns an sie: Mutter, auch ich bin wie viele viele andere schuld am Tod deines Sohnes. Ich bin schuld. Tritt du für mich ein. Bete für mich und rette mich durch deine Fürbitte, denn, wenn du mir verzeihst, wird mich niemand verurteilen und zu Grunde gehen lassen. Wenn aber du nicht verzeihst, dann wird dein Wort mächtiger sein als alle Worte zu unserem Schutze.

Mit welch einem Glauben sollten wir deshalb nun leben. Mit welch einem Grauen sollten wir jetzt vor dem Angesicht der Mutter stehen, der wir durch einen durch uns verschuldeten Mord am Kreuz ihr Leben genommen haben. Stellt euch vor die Gottesmutter und schaut ihr in die Augen. Hört, wenn ihr vor das Grabtuch treten werdet, den Trauergesang der Gottesmutter, der dann gesungen werden wird. Hier wird nicht nur einfach ein Text gelesen, es ist das Leid einer Mutter, bei der wir um Schutz bitten, weil wir ihren Sohn getötet haben, weil wir Ihn tagein tagaus sogar jetzt, nachdem wir wissen, wer Er ist, von uns stoßen. Alles wissen wir, und trotzdem lehnen wir Ihn ab ...

Lasst uns vor unser Gewissen treten, welches nun aufgewühlt ist durch ihr Leid und lasst uns Buße tun.  Möge unser Herz bedrückt sein und lasst uns zu Christus beten, dass Er uns die Kraft geben möge, endlich aufzuwachen, um in uns zu gehen, aufzuleben und wahrhaft Mensch zu werden, damit unserem Leben endlich eine Tiefe bekomme und eine Weite, die es uns möglich macht die Liebe und die Größe Gottes auch in unser Leben einkehren zu lassen. Mit dieser Liebe können wir dann hinausgehen in die Welt, um dort Leben und eine Welt zu schaffen mit einer neuen Tiefe und Weite, die Gott und Sein Sein unter uns wie ein schmückendes Tuch umhüllt, welches in allen Farben des Lichtes leuchtet und in allen Farben des Paradieses funkelt. Darin besteht unsere Berufung, dies können wir verwirklichen, indem wir uns selbst überwinden, selbst hingeben, selbst sterben, wenn es nötig ist - und es ist nötig - weil lieben sich selbst sterben bedeutet, sich schon nicht mehr selbst so übermäßig wichtig nehmen, sondern den anderen, den wir lieben, ganz egal, ob der andere nun Gott oder ein Mensch ist. Lieben bedeutet für einen anderen zu leben und alle Sorge um sich selbst abzulegen. Lasst uns deshalb sterben, so wie es ein jeder von uns vermag, sterben mit all unserer Kraft, um durch Liebe neu zu leben für Gott und für andere.

Amen              

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