Der blinde Bartimäus (Lk. 18,35-43)
„Lasst uns noch einmal sehr genau über all dies nachsinnen, solange wir noch die Möglichkeit haben sehend zu werden, um zu erkennen, wie reich und herrlich das Leben ist, wie nahe uns der Herr ist, wie wunderbar Er von Licht und Glanz der Ewigkeit erfüllt ist, wie unendlich demütig Er ist und sanft und dicht bei uns, wie dieses Strahlen des Herrn auf jedem Gesicht, wie auf den Ikonen liegt, wie der Quell des Lebens in allem, was geschieht, ja in jedem Menschen sprudelt und uns zuruft: Öffne dich! Öffne deine Augen und dein Herz!" ...  Dann wird auch Leben in dir sein! - aus einer Predigt zur Perikope vom blinden Bartimäus von Metropolit Antonij von Sourozh
Статья

1. Februar 1970

Der blinde Mann, der vor den Toren Jerichos saß, wusste, dass er blind war. Auch wir sind blind, doch wir gestehen es uns nicht ein. Er wusste es, weil alle um ihn herum es bezeugen konnten, dass sie sehen können und ihm davon erzählten, was sie sehen. So konnte er begreifen, was ihm fehlte.

Auch wir sind blind im Gegensatz zu den Heiligen. Sie waren Menschen wie wir auch, ihre Seele jedoch war voller Licht, sie konnten mit dem Herzen sehen und mit dem Verstand. Wenn wir uns mit ihnen vergleichen, dann wird sehr schnell klar, wie viel wir nicht sehen. Es ist ein Unglück, dass nur so wenige Leute unter uns wirklich zu sehen vermögen. Viel furchtbarer jedoch ist, dass wir glauben, dass dies der Normalzustand sei. Wenn dann, was selten vorkommt, wirklich jemand etwas aussergewöhnliches sieht, hört, fühlt, versteht und an sich erfährt, dann ist dies eher eine Ausnahme. Dieser Mensch ist kein Maß für uns und hinterfragt in keinerlei Weise  unsere eigene Blindheit, unsere Hartherzigkeit und Leblosigkeit. In jenen Zeiten und an jenen Orten, wo sichtbar Heilige unter den Menschen lebten, verfuhren die Leute mit ihnen im Allgemeinen ebenso, wie die Leute mit Christus verfuhren. Sie hörten ihnen voller Mißtrauen zu, reagierten auf ihre Worte mit Spott, bliesen ihre Ratschläge in den Wind und folgen nicht sonderlich ihren Spuren. Manchmal, natürlich, wunderten sie sich, was für besondere Gaben ihnen gegeben waren, doch gleichzeitig hielten sie diese für so aussergewöhnlich und unnatürlich, dass es ihnen sinnlos schien, ebenso nach solchen Gaben zu streben. So sind auch wir heute blind. Wie sehen und fühlen nichts. Wir sollten uns deshalb wenigstens die Frage stellen, was sehen wir nicht, für was sind wir blind? Dann würde es vielleicht auch uns in den Sinn kommen, genauer hinzuhören und zu versuchen, mehr von allem zu begreifen.

Blind sind wir dafür, dass Gott unter uns ist, ob nun in der Kirche oder auch außerhalb ihrer. Überall ist der Herr anwesend. Wir jedoch leben, als ob es Ihn nicht geben würde. Er ist an unserer Seite, durch Ihn atmen wir, regen uns, sind wir. Das ist uns jedoch in keiner Weise bewußt. Wir fühlen in uns Leben und Energie, wir haben einen Verstand, wir erleben Dinge, besitzen Talente und haben Erfolg und bei all dem gehen wir an Dem vorbei, Der die Quelle all dessen ist. Wir sind blind für den Herrn. Er ist unter uns und wir befassen uns mit leeren Gedanken, erleben unsinnige Dinge, führen  vergängliche und tote Gespräche. Er jedoch steht schweigend - so wie ein Bettler vor unserer Tür - in der Hoffnung, ob nicht der eine oder andere Ihn wahrnehme, ob nicht einer auf Ihn aufmerksam würde, ob nicht jemand Seiner Anwesenheit gewahr würde und ob Seine Gegenwart nicht etwas, wenigstens, in den Herzen, den Gedanken oder den Worten der Menschen verändere?

Wir sehen nichts und solche sind wir viele, deshalb finden wir auch gar nichts dabei. Alle sind blind, also ist dies die Norm. Wie furchtbar aber ist das! Auch wenn wir um uns schauen, sind wir blind. Jeder Mensch trägt in sich das Bild Gottes. Er ist wie eine Ikone, ein Abbild. Wir jedoch sehen nichts dergleichen in ihm. Mag dieses Bild auch entstellt sein, behandeln wir jedoch etwa eine Ikone, die durch menschliche Grobheit verunstaltet wurde, so wie einen heruntergekommenen Menschen? Wenn wir eine Ikone finden, die zertreten wurde und besudelt ist, heben wir sie dann etwa nicht voller Ehrfurcht und Schmerz in der Seele auf, schmiegen sie an unser Herz, bringen sie in unser Haus, machen sie sauber und stellen sie wie eine Märtyrerin in unsere Gebetsecke? Werden wir dort dann nicht etwa all das, was sie entstellt hat, voller Ehrfurcht wie Wunden betrachten, weil wir in all dem das erkennen, was mit Gott geschehen war, als er Mensch geworden war, wie die Menschen Ihn geschlagen hatten, getreten, angespuckt und verspotten hatten. All das können wir in einer Ikone sehen, die mit Farben gemalt wurde und später verunstaltet wurde.

Wenn jedoch vor uns eine „nicht von Hand gemachte" Ikone, ein Mensch steht, dann sehen wir in ihm alles andere als das Abbild Gottes und verhalten uns natürlich deshalb auch in keiner Weise so, wie wir die Ikone behandelt hätten, von der ich gerade erzählt habe. Zerreist es uns etwa das Herz, wenn wir einen verunstalteten Menschen sehen, der voller Bosheit ist und voller Neid? Nein! Wir empfinden dabei keinerlei Schmerz, es ist uns nur eher zuwider! Auch dem anderen ist es zuwider, uns anzusehen, weil wir denen, die wir verurteilen, gleichen. Und so schlägt der eine Blinde in der Finsternis den anderen und keiner von beiden gibt zu, dass er selbst blind ist. Das ist furchtbar!

Und noch eins: Alle sind in der Hand Gottes. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Sie können grausam sein, sie können ebenso so voller Licht sein, dass die Augen geblendet werden, sie können aber auch so unscheinbar sein und einfach, dass es unserer gesamten Aufmerksamkeit bedarf, um in Ihnen die Hand Gottes zu erblicken. Unser gesamtes Leben, das Leben jedes einzelnen Menschen für sich, das Leben von jedem von uns ist in der Hand Gottes. Alles, ohne Ausnahme, was im Leben  passiert, hat einen Sinn. Wenn wir dies allein begreifen würden, dann würden wir die Frage stellen: Wohin führt uns der Herr und was bedeutet dies? Anstatt zu schreien: Das gefällt mir nicht, das tut mir weh, das regt mich auf, das will ich nicht! Geh von mir, Herr, mit Deinen Seligpreisungen, die von Hunger, von Tränen, von Verfolgung und Einsamkeit sprechen. Das möchte ich alles nicht! ...

Auch was unser Leben betrifft und ebenso die vielen komplizierten und fassentenreichen Leben der anderen, die mit uns verbunden sind, sind wir blind. Wir sind blind für das Verständnis der Wege des Herrn in der Geschichte, blind in unserem Verhältnis zu einzelnen Personen oder ganzen Gruppen von Menschen, blind zu Gläubigen und zu Ungläubigen. Wir sind den eigenen Leuten gegenüber ebenso blind wie zu Fremden. Wird das nicht sofort klar, wenn man sich ein wenig umsieht?

Wir sitzen im Staub vor den Toren Jerichos und meinen, dass wir sehen könnten. Der Herr geht vorüber und wir sagen kein Wort und schreien nicht um Hilfe. Uns braucht niemand zu sagen: „Sei still, bemühe den Meister nicht!" Was sollte ich auch von Ihm brauchen? Ich weiss ja alles. Was kann Er mir schon geben. Ich sehe, ich lebe. Das ist falsch. Wir sind blind und tot. Und nur Er kann uns das Sehen schenken, nur Er kann unser Leben zum Leben machen. Das alles sehen wir nicht und bitten Ihn deshalb auch nicht und so geht Er vorrüber. Vielmehr jedoch bleibt Er stehen und klopft an die Pforte unseres Verstandes, unseres Herzens, ja unseres Lebens mit allem, was passiert, durch alle Leute, alle Erlebnisse, durch alles - ohne Ausnahme - durch alles, was unser persönliches Leben und das Leben der Menschen um mich, ja aller Menschen und der gesamten Welt und des gesamten Kosmos ausmacht, klopft Er an unsere Tore. Wir jedoch hören weder Sein Klopfen noch Seine Stimme und öffnen nicht.

Lasst uns diese Erzählung immer wieder lesen! Christus fragt den Blinden: Was willst du, dass Ich für dich tun soll? Wir würden antworten. Ach gar nichts, Herr! Ich brauche nichts, ich habe alles ... oder aber anders, was könnte ich nicht alles gebrauchen: Geld, Ruhm, Freundschaften, tausende Dinge ... Nur Christus selbst und Sein Reich brauche ich nicht. Auch deshalb ist es uns nicht vergönnt oder nur ganz selten zu hören: „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen!" Du bist auf dem Weg zum Sehen. Werde also sehend, es liegt in deiner Hand! Wie hören solch ein Wort nicht, nicht weil unser theorethischer Glauben keine Kraft hätte, sondern, weil wir nichts brauchen, weil wir schon sehend sind und das ist das Furchbare!

Lasst uns noch einmal sehr genau über all dies nachsinnen, solange wir noch die Möglichkeit haben sehend zu werden, um zu erkennen, wie reich und herrlich das Leben ist, wie nahe uns der Herr ist, wie wunderbar Er von Licht und Glanz der Ewigkeit erfüllt ist, wie unendlich demütig Er ist und sanft und dicht bei uns, wie dieses Strahlen des Herrn auf jedem Gesicht, wie auf den Ikonen liegt, wie der Quell des Lebens in allem, was geschieht, in jedem Menschen sprudelt und uns zuruft: Öffne dich. Öffne deine Augen, dein Herz! Öffne dich! Lass deinen Willen biegsam und frei sein! Lass deinen Körper - der Erde gleich - fruchtbar sein für die Saat des Herrn! Dann wird auch Leben in dir sein! Das Leben wird dann in einem Menschen entfacht werden und wird sich immer weiter um ihn herum ausbreiten, wie das Licht, wie die Wärme, wie die Freude, wie die Ewigkeit. Alles ist uns geschenkt und wie wenig machen wir davon gebrauch. Gib uns, Herr, Mut, um aufrichtig zu sein und gib uns, Herr, die Freude des Sehens und Begreifens.

Amen            

Комментарии ():
Написать комментарий:

Другие публикации на портале:

Еще 9