Zum Sonntag des Vergebens
„Jedes Jahr machen wir uns immer wieder neu auf den Weg, um unseren Geist neu zu entzünden, um unsere Herzen zu reinigen, ... um heimzukehren zu unserem Gott und Vater. Dies geschieht in jedem von uns ganz individuell. Gleichzeitig ist es jedoch, wie in alten Zeiten, als die Leute zusammen jenes Land verlassen hatten, das ihnen zum Ort der Knechtschaft geworden war, um in einem unbekannten Land die Freiheit zu erlangen, ein gemeinsamer Weg ...  gemeinsam, das heisst in Gemeinschaft miteinander versöhnter Menschen.“ - aus der Predigt zum Sonntag des Vergebens von Metropolit Antonij von Suroz.
Статья

1975

Heute gedenkt die Kirche der Vertreibung Adams aus dem Paradies. Die Pforten zum Garten Eden wurden verschlossen und die Menschen zu Waisen. Seitdem ist es nun unser Los geworden, eingeengt durch die Gesetze der Natur auf dunklen Pfaden zu wandeln, in die kaum merkbar der Schein des Lichtes Christi dringt. Unsere Heimat im Himmel ist irgendwo weit weg von uns und wir sehnen uns nach ihr wie Vertriebene. Wir sehnen uns nach jener Freude, die alle Vertriebenen erfüllt, wenn sie sich an ihr verlorenes Vaterland erinnern, die alle uns erfüllt, wenn wir uns an jene Reinheit, an jenes Licht erinnern, das einmal in uns strahlte , das nun jedoch verschüttet liegt unter unseren Sünden und untergegangen ist im Dunkel unserer Herzen.

Und so fließen die Tränen Adams weiter durch die Jahrhunderte und rufen den Himmel an. Der waise, ausgestoßene Adam schluchst in den Tränen jedes seiner Söhne und Töchter. Er weint und bittet Gott, ihm die einstige Freude zurückzugeben, ihm erneut Seine Freundschaft zu schenken, ihn wieder aufzunehmen in die Wärme Seiner Liebe. Hat Gott etwa jemals Seine Liebe und Seine Freundschaft von uns genommen? Nein! Wir sind es, die sich weit von Ihm entfernt haben. Wir haben unser sensibles Herz betäubt und hören Seinen Ruf nicht mehr. Und deshalb fühlen wir Seine Nähe nicht mehr. Doch Christus ist auf die Erde gekommen. Unser Gott hat unter uns gelebt. Die Menschen haben ihn auf den Strassen, in Städten und Dörfern gehen sehen. Sie haben Ihn reden hören, haben Ihm ins Gesicht geschaut. Haben gespürt, wie Er mit Seiner Lehre ihr Herz entflammte, wie Er ihren Verstand mit Licht erfüllte. Und doch haben sie Ihn bis zum Ende nicht erkannt. Und so starb der Sohn Gottes, der aus Liebe zu uns zum Sohn der Menschen geworden war, außerhalb der Stadt, zurückgewiesen und verschmäht von den Menschen. Doch Gottes Liebe wurde dadurch nicht erschüttert. Durch den Tod bezwang der Herr den Tod. Er hat uns befreit von der ewigen Verdammnis und lässt uns auch jetzt schon in einem gewissen Maße teilhaben am Ewigen Leben. Das Ewige Leben ist Gott selbst, ist die Göttliche Liebe, ist Er selbst.

Heute, zu Beginn der Großen Fasten, gedenken wir wie jedes Jahr unserer Verlassenheit. Wir erinnern uns, dass wir Waisen sind. Wir gedenken unserer verlorenen Heimat, unseres Vaterhauses. Und jedes Jahr machen wir uns immer wieder neu auf den Weg, um unseren Geist neu zu entzünden, um unsere Herzen zu reinigen, um unseren Verstand mit Licht durchfluten zu lassen, um heimzukehren zu unserem Gott und Vater. Dies geschieht in jedem von uns ganz individuell. Gleichzeitig jedoch ist es auch ein gemeinsamer Weg, wie in alten Zeiten, als die Leute gemeinsam jenes Land verlassen hatten, das ihnen zum Ort der Knechtschaft geworden war, um in einem ihnen noch unbekannten Land die Freiheit zu erlangen. So sollen auch wir uns nun lossagen von all dem, was uns zu Sklaven macht, losreissen aus der Knechtschaft, um irgendwann dann einmal die Freiheit der Gottessöhne zu erlangen, zu der wir berufen sind und die es zu erwerben gilt.

Und wie die Menschen von einst sich gemeinsam und geschlossen auf den Weg machten, wie sie sich  dabei auch in ihrer Schwachtheit vereinigten, damit aus dieser Schwachheit, aus Kameradschaft und aus gegenseitiger Ergebenheit Kraft erwachsen möge, sollten auch wir uns nun auf den Weg machen. Auch damals nahmen die Leute neben sich immer wieder ihnen bisher unbekannte Menschen wahr und schauten in neue Gesichter. Was jedoch hatten alle diese Menschen gemeinsam? Nur eins: Sie alle hatten sich losgesagt von der Knechtschaft, sie alle suchten die Freiheit, alle hatten verstanden, dass der Weg von der Knechtschaft zur Freiheit nur zusammen möglich ist. Zusammen, das heisst in Gemeinschaft miteinander versöhnter Menschen. Das Alte Israel zog vierzig Jahre durch die Wüste, bevor es zum Gelobten Land gelangte. Niemand hätte in dieser glühenden Wüste überleben können, wenn nicht jeder für den anderen gesorgt hätte, wenn nicht jeder an den anderen gedacht hätte, wenn sich nicht alle für die Geschicke eines jeden und sich nicht jeder für das Schicksal aller verantwortlich gefühlt hätte.

So mögen auch wir uns nun zu einer Gemeinschaft zusammenraufen und uns auf den Weg machen. Wir sollten uns im Klaren sein, dass wir uns von vielem lösen müssen, um frei zu werden. Wir müssen uns bewußst machen, dass wir dies nur erreichen können, wenn wir miteinander in Liebe, Mitgefühl, Barmherzigkeit und Mitleid vereint und verbunden sind. Deshalb stellen wir uns zu Beginn der Großen Fasten vor die Ikonen des Heilands und der Gottesmutter, um Sie um Verzeihung zu bitten, um Ihren Segen zu erbitten für unseren Weg. Christus wurde von den Söhnen und Töchtern Adams getötet. Wir sind ebenso dessen Söhne und Töchter. Wir bitten Christus um unser Heil und uns zu segnen. Doch wessen Hände haben ihn ans Kreuz geschlagen? Wessen Hass hat ihn verschmäht? Waren es nicht die Hände und der Hass unsere Vorfahren? Menschen wie du und ich? Wir sollten Christus um Vergebung und um Seinen Segen bitten, damit Sein Kreuz uns zum Heil dienen möge, damit wir durch Seine Wunden gesunden mögen, dass wir die sich am Kreuz opfernde Liebe des Herrn verstehen mögen, um so in uns Kräfte zu finden, die uns ermöglichen, Ihm unser gesamtes Leben und all unsere Liebe in Dankbarkeit  darzubringen.

Auch die Gottesmutter sollten wir um Vergebung bitten. Ihr Sohn ist doch wegen unserer Sünden zu Tode gekommen. Nicht nur wegen der Sünde Adams im Paradies, nicht nur wegen der Sünden aller derer, die vor uns gelebt haben. Auch in unseren Tagen würde Er ebenso zugrunde gehen, weil wir genau so verblendet, genauso unhaltsam sind in unseren Lastern wie die Menschen zur Zeit Jesu. Ständig rufen wir die Gottesmutter um Hilfe an. Aber was für einen Glauben fordert es, um von ihr Gnade und Hilfe zu erbitten.  Bedeutet nicht jedes unserer Gebete zu ihr folgendes: Mutter! Durch meine Sünden wurde Dein Sohn getötet, durch mich starb Dein Sohn einen grausamen Tod. Vergib mir! Wenn du mir vergibst, dann wird mich niemand richten ... Lasst uns nun mit einem solchen Gebet jeden Tag  und heute Abend ganz besonders vor die Mutter Gottes treten: Vergib uns, oh Mutter Christi unseres Heilands, Den unsere Sünden getötet haben.

Möge jeder von uns dieses gedenken, mögen jeder jedem verzeihen. Nicht nur denen, die hier anwesendend sind, sondern auch denen, bei denen wir  selbst nicht mehr auf Verzeihen hoffen können. Viele, die wir beleidigt und verletzt haben, sind schon entschlafen. Jetzt ist in ihren Herzen alles Böse und alle Bitternis verschwunden. Jetzt stehen sie vor dem Angesicht Gottes und haben verstanden, wie schwach wir alle doch sind und wie verblendet, wie wir einander verletzen und unzählig viel Bosheit in unsere Worte und unsere Handlungen legen, ohne dies eigentlich zu wollen.  Jetzt sind sie im Himmelreich, im Reich der Liebe, wo alle wissen, dass es sowohl im Himmel als auch auf Erden nichts anderes gibt, was Gottes und der Menschen würdig ist, außer der Liebe. Lasst uns die Entschlafenen nun von Herzen bitten, dass auch sie uns vergeben und segnen mögen, dass auch wir, hier noch auf der Erde, zumindestens jedoch dann, wenn auch unsere Seele vom Leib Abschied nehmen wird, in Frieden in das Reich der ewigen Ruhe eingehen mögen. In das Reich der lebendigen und von Leben bebenden Ruhe, in das Reich der triumpfierenden Liebe. Lasst uns auch derer gedenken, die ein Stück unseres Weges mit uns gegangen sind, die uns dann jedoch beleidigt haben oder die wir verletzt haben. Lasst uns auch ihnen vergeben wie ebenso auch denen, die unser Leben erdrückt haben, die zuweilen unsere lichtesten Gedanken und unseren freudigsten Eifer zunichte gemacht haben. Lasst uns ihnen vergeben und auch sie bitten, selbst wenn sie uns nicht mehr nahe sind, uns zu vergeben. Möge der Herr unsere Bitten in ihre Herzen leiten zusammen mit Seinem Frieden, den nur Er zu schenken vermag, den die Welt nicht geben und auch nicht nehmen kann. Möge der Herr mit diesem göttlichen Frieden ihre und unsere Herzen und Seelen trösten und heilen.

Schauen wir uns um. Lasst uns einander vergeben und die Vergebung von einander annehmen und uns nun gemeinsam auf den Weg machen von der Erde zum Himmel, von der Knechtschaft zur Freiheit. Lasst uns einander verzeihen, damit  wir nicht mit schweren Ketten an Händen und Füßen gehen müssen, sondern mit leichten Schritten Christus folgen können, wohin Er auch immer gehen mag: ob in die Wüste oder in eine Versuchung, ob unter das Volk, um den Menschen mit Worten der Wahrheit oder mit Seiner wunderbaren Zärtlichkeit Seine Liebe zu erweisen. Lasst uns, wenn es sein muss, Ihm  auch in den furchtbaren Garten Gethsemane folgen oder weiter, wenn die Zeit kommen sollte, dass Seele und Leib von einander scheiden müssen im Mysterium des Todes: nicht als Besiegte, sondern zu Christus gehörend. Möge nun der Herr uns allen Seinen Frieden schenken, den Frieden von der Gottesmutter, den Frieden von den Entschlafenen und von den Lebenden. Dieser  Frieden kann uns von ihnen allen aber nur dann geschenkt werden, wenn auch wir ihnen Frieden und Liebe schenken.

Amen    

Quelle: http://www.metropolit-anthony.orc.ru/inname/in_83.htm

Комментарии ():
Написать комментарий:

Другие публикации на портале:

Еще 9