Seine Heiligkeit, der Patriarch, über Aggression gegen den Glauben, gegen Kirche und Staat sowie die Versöhnung zwischen Russland und Polen
Am 9. September strahlte der Fernsehsender “Rossija” ein Interview mit Seiner Heiligkeit, dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland Kyrill aus, das vom Journalisten Dmitrij Kiseljow geführt wurde.
Статья

- Eure Heiligkeit, die Kirche hat es heute mit einer regelrechten Aggression zu tun. Meiner Ansicht nach ist das ein Symptom eines weiter reichenden Zustands - einer Anomie. Anomie ist ein Begriff, den der französische Philosoph und Begründer der Soziologie Émile Durkheim noch im 19. Jahrhundert geprägt hat. Er bedeutet ein Fehlen von Werten, das Fehlen eines Ankerpunktes. Scheint es Ihnen nicht auch, dass unsere Gesellschaft sich an der Schwelle zu dieser Erscheinung befindet beziehungsweise schon teilweise die Merkmale eines solchen Zustands aufweist?

- Um kurz davon zu sprechen, was hinsichtlich einer Aggression gegen die Kirche passierte und weiterhin passiert, so ist das selbstverständlich keine zufällige Erscheinung. Ich werde den Gedanken nicht los, dass es sich hier um eine Art Aufklärungseinsatz handelt. Man will prüfen, wie tief und fest der Glaube und die Zugehörigkeit der Menschen zur Orthodoxie in Russland tatsächlich sind. Viele sprechen unserem Volk, oder zumindest weiten Teilen unseres Volkes, schon längere Zeit jegliche Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Verteidigung von Werten und eigenen Standpunkten ab. Ich will davon absehen, Aussagen bestimmter Personen zu zitieren, die unser Volk beleidigen, Personen, die sich als einer “kreativen Klasse” zugehörig zählen, doch schon allein das ist eine Position der Verachtung von Oben herab. Offensichtlich kommt jetzt die Zeit, insbesondere nachdem alle gesehen haben, was passiertem als der Gürtel der Gottesmutter in Russland weilte. Wir könnenn uns wohl an die Reaktion erinnern, welche die Millionen an Menschen betraf, welche in die Kirchen kamen. Scheinbar ist es jetzt an der Zeit zu prüfen: ist unser Volk dem Glauben tatsächlich so ergeben? Ist es fähig, diesen Glauben zu verteidigen? Ist das Volk in der Lage, überhaupt irgend etwas zu verteidigen? So kam es denn auch zu diesen Provokationen.

Ich denke, dass die, welche diese Provokationen vom Zaun gebrochen haben, sich inzwischen davon überzeugen konnten, dass sie es hier nicht mit einer anonymen Masse einer stillen, amorphen Mehrheit zu tun haben, sondern mit einem Volk, das in der Lage ist, seine Heiligtümer zu schützen.

- Doch diese Aggression gilt ja nicht nur der Kirche. Es ist eine Aggression gegen die Werte überhaupt. Die Kirche stelle keinen Wert dar. Die Opfer des NKWD seien kein Wert. Das menschliche Leben sei keiner. Die Geschichte auch nicht. Es scheint überhaupt ein Protest gegen jegliche Werte zu sein. Das ist es, was einen nicht nur verbittert macht und empört, sondern die einen entmutigt, die anderen zornig werden lässt.

- Völlig richtig. Doch hier muss man noch ergänzen, dass es sich um eine Aggression gegen unseren kulturellen Kern handelt, gegen unseren Zivilisationskodex. Der Begriff “Heiligtum” hatte für unser Volk immer zentrale Bedeutung. Hierher rührt auch der Begriff “Heiliges Russland” - das kommt nicht davon, dass wir so viele Kirchen hatten, sondern weil das Heilige und das Verständnis davon im Leben dominierten. Und genau gegen dieses Herz, gegen diesen zentralen Wert ist der Schlag gerichtet.

Und Sie haben recht: es geht um eine Herausforderung an das Wertesystem im Leben. Sie erwähnten Durkheim. Er richtete seine Aufmerksamkeit ja aber gerade auf den moralischen Zustand der Gesellschaft, er sagte, dass die Moral das unabdingbare Minimum und absolute Notwendigkeit sei. Für die Gesellschaft ist sie wie das Brot des Lebens, ohne welches sie zerfällt, und damit hat er vollkommen recht. Es ist unzulässig anzunehmen, Recht und Gesetz seien das Wichtigste, Recht und Gesetz seien es allein, welche für den Zusammenhalt der Gemeinschaft sorgen - doch das tun heutzutage viele, die eine moralische Dimension in gesellschaftlichen Beziehungen leugnen. Denn was steht denn hinter dem Gesetz? Strafandrohung. Wir sind zusammen eine Gemeinschaft, denn würden wir Recht und Gesetz verletzen, so werden wir bestraft. Die Moral ist nun ein innerer Antrieb im gesellschaftlichen Zusammenleben. Es ist die geistliche Klammer, welche die Menschen verbindet. Hierbei handelt es sich tatsächlich um einen fundamentalen Wertebegriff, ohne den die menschliche Gesellschaft zerfällt.

An dieser Stelle möchte ich noch folgendes anmerken. Menschen, die Gott vollständig leugnen, finden, dass Moral eine wandelbare, kulturelle Erscheinung sei. Verändert sich der kulturelle Kontext, in dem die Menschen leben, und schon ändert sich die Moral. Tatsächlich ist das nicht so. Heute, so scheint es, zielen alle Kräfte darauf ab, die moralischen Grundlagen der Gesellschaft zu erschüttern, und es funktioniert nicht. Schauen Sie auf die Statistik, verschiedenste soziologische Organisationen behaupten: die absolute Mehrheit unserer Menschen lehnt Gotteslästerung ab. Der Teil derer, die sie befürworten, ist verschwindend gering. Die absolute Mehrheit unseres Volkes tritt für Gesetze ein, welche die Verbreitung der Sünde einschränken würden. Wovon zeugt das? Natürlich davon, dass in den Menschen ein moralisches Empfinden fortbesteht.

- Eure Heiligkeit, einer der Punkte der Aggression besteht darin, dass die Kirche beschuldigt wird, mit dem Staat zusammenzuwachsen. Was würden Sie auf solche Anwürfe entgegnen?

- Ich antworte mit nur einem Wort - das ist ein Mythos. Ein Mythos, der absichtlich geschaffen wurde. Wenn man die Kirche angreift, dann doch von einer weltanschaulichen Position, und diese weltanschauliche Position muss man sich erst schaffen. Und so wird heute der Mythos eines Zusammenwachsens zwischen Staat und Kirche und einer vermeintlichen Klerikalisierung unseres Lebens geschaffen. Wozu? Doch dazu, um zu zeigen, dass die Kirche durch ein solches Zusammenwachsen die Manipulation unseres Bewusstseins und unseres Willens beansprucht. Das sei eine gewisse Pseudo-Ideologie, die an die Stelle der kommunistischen Ideologie tritt. Hieraus zieht man den Schluss, dass die Kirche von freiheitlichem Gesichtspunkt gefährlich sei, dass sie das Bewusstsein versklavt.

Versuchen wir nun einmal, diese Mythen auseinanderzunehmen. Es geht also um ein Zusammenwachsen. Wir haben doch die Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Kirche. Bevor die Journalisten ihren Mythos weiterverbreiten, sollten sie sich dieses Heftchen nehmen und einmal nachlesen, was dort zum Thema Beziehungen zwischen Kirche und Staat gesagt wird. Die Kirche verteidigt ihre Autonomie. Die Kirche ist der Meinung, dass nur eine freie Kirche die Möglichkeit besitzt, geistlich auf die Menschen einzuwirken und dass jegliches Zusammenwachsen, jegliche Klerikalisierung für die Predigt erzgefährlich sind. Das haben wir in der Zeit vor der Revolution bereits durchgemacht. Dort gab es ein Zusammenwachsen, das damals allerdings nicht von der Kirche, sondern vom Staat ausging, welcher die Kirche sozusagen okkupiert hatte. Kurzum, es gibt kein einziges Dokument, keine einzige Verlautbarung oder eine Erklärung des Patriarchen, auf Grundlage dessen man schließen könnte, es gäbe ein Zusammenwachsen.

Woher kommt das dann? Ich versuche es zu erklären. In den letzten zwanzig Jahren hat genau die Kirche, die man der Untätigkeit und Unfähigkeit beschuldigte, ihre Mission in der heutigen Welt wahrzunehmen, gute Ergebnisse bei der Erleuchtung unseres Vokes erreicht. Unser Volk wird langsam orthodox. Schon rein visuell haben wir heute in unseren Kirchen, zum Beispiel im Ostergottesdienst oder bei größeren Festtagen ein vollkommen anderes Volk. Das sind Menschen mittleren Alters, Männer und Frauen, auch mit Kindern auf den Armen, es sind Jugendliche, Kinder, ältere Menschen - das ist unser Volk.

Und nun versuchen wir einmal zu verstehen, wie sich ein gläubiger Politiker verhalten soll, der ein Mitglied der Orthodoxen Kirche ist, wenn er in einen Dialog mit der Kirche tritt. Soll er sich denn auf allerlei Weise von seinen eigenen Überzeugungen distanzieren? Nein, sondern er spricht mit der Kirche als deren Sohn. Er tritt in einen wohlwollenden Dialog mit der Kirche. Warum sollte man aus der Tatsache, dass der Präsident und der Premierminister ein oder zweimal im Jahr mit dem Patriarchen beten, den Schluss ziehen, hier gäbe es eine Verquickung? Weshalb sollten wir diese Menschen, die gläubige Menschen sind, des Rechts zu beten berauben, einschließlich des Rechts auf gemeinsames Gebet mit ihrem Patriarchen? Und dabei ist es schon allein dieses Bild, welches ungesunde Gefühle in denen hervorruft, die gegen eine stärkere Rolle der Kirche in der Gesellschaft sind.

Ein weiteres Bild, das uns von unseren Gegnern vorgehalten wird, um damit zu beweisen, dass es eine Verquickung gibt: der Patriarch in der Basis von Atom-U-Booten in Wiljutschinsk. Und was weiter? Warum zieht man keine Schlüsse über eine Verquickung von Kirche und Staat, wenn wir Kaplane in Afghanistan gezeigt bekommen? Warum fragt niemand nach einer Verquickung, wenn in den regulären Streitkräften fast aller europäischen Länder solche Kaplane professionell eingesetzt werden? Nach Wiljutschinsk ist der Patriarch gefahren, weil er von den Seeleuten der Marine eingeladen wurde, um ihnen Worte des Dankes zu sagen. Er kam zu seinen Gläubigen, denn der Großteil der Marinesoldaten sind gläubige Menschen. Was hat das mit einem Zusammenwachsen von Kirche und Staat zu tun? Das war, wenn Sie so wollen, ein pastoraler und missionarischer Besuch. Dem Volk wird aber ein Bild vorgehalten, zu dem man sagt: “Schaut nur, welch eine Verquickung von Kirche und Staat.”

Hier werden Dinge absichtlich falsch interpretiert. Das ist keine Verquickung, sondern eine Christianisierung unserer Gesellschaft, und das ist es, was unsere Gegner schreckt. Daher kommt also der Aufruhr. Es ist die Angst davor, dass die Orthodoxie, welche zu Sowjetzeiten praktisch vollständig zerstört worden war, innerhalb von 20 Jahren wieder in das Leben seines Volkes zurückkehren konnte. Sicherlich noch nicht so weit, wie wir uns das vielleicht wünschen, aber möglicherweise wird all dieser Trubel erzeugt, um uns Einhalt zu gebieten. Dazu will ich anmerken: das wird uns nicht aufhalten.

- Ende diesen Sommers fand Ihre Visite nach Polen statt. In welchem Maße ist es gelungen, die Wunden zu heilen, die wir aus lang zurückliegender Geschichte geerbt haben? 

- Zuerst einmal zur Geschichte und zur Gegenwart. Wahrscheinlich gibt es keine zwei anderen europäischen Völker, über denen die Geschichte derart lastet und die so willentlich Salz in ihre Wunden streuen, welche aus der Geschichte herrühren, und damit ihre heutigen Beziehungen vergiften. Wir wissen, dass beide Seiten genauestens über die Versündigungen der jeweils anderen Seite Buch führen, und beide Seiten wollen eine Art Saldo erreichen, in dem es heißt, “auf meiner Seite haben wir ein Haben, auf der anderen Seite ein Soll, anders gesagt, die andere Seite hat mir mehr Leid zugefügt als ich ihr”. Ich bin nicht sicher, dass es gelingen wird, diese Herangehensweise zu ändern, egal, wie sehr die Historiker sich in ihre Materie vertiefen. Was bedeutet das aber? Bedeutet das denn, dass wir bis in alle Ewigkeit Salz in unsere historischen Wunden streuen müssen? Müssen wir die Wunden immer wieder von Neuem aufwühlen? Vielleicht sollte man lieber eine andere, neue Herangehensweise an das finden, was es in unseren Beziehungen gegeben hat und weiter gibt? Denn es ist ja nun einmal so, dass unsere beiden Völker historisch zusammen leben. So hat Gott es geboten, dass wir immer zusammen sind. Können wir als Nachbarn und Menschen, die christliche Werte gemeinsam haben, etwa keine andere Basis für unsere Beziehungen schaffen?

Aus diesen Beweggründen gab es die Idee, den Historikern zu sagen: beschäftigt ihr euch mit den historischen Problemen, wir aber wollen eine neue Seite in unseren Beziehungen aufschlagen. Dazu muss es ja aber einen Akt der Versöhnung geben. Im Dialog mit der Katholischen Kirche in Polen, der ganze drei Jahre gedauert hat, haben wir uns darüber geeinigt, dass das Schlüsselwort bei der Versöhnung das Wort “vergib!” sein muss. Wir bitten einander um Vergebung, als christliche Gemeinschaften, als christliche Völker, und wollen so dem Willen unseres Heilands entsprechen. In unseren bilaterlaen Beziehungen wollen wir die Treue zu Christus, den evangelischen Werten demonstrieren, und im Zeichen dieses Bekenntnisses zu den evangelischen Werten bitten wir einander um Vergebung.

Und was glauben Sie? Als ich nach Polen kam, war ich überrascht, mit welchem Enthusiasmus das polnische Volk auf den gemeinsamen, an das russische und polnische Volk gerichteten Aufruf der beiden Kirchen reagierte. Sicherlich gibt es immer eine Opposition, aber sie war mikroskopisch klein. Die Botschaft selbst wurde von mir und vom Vorsitzenden der Konferenz Katholischer Bischöfe in Polen, Metropolit Józef Mihalik, unterzeichnet, und das an einem symbolischen Ort, nämlich im Königspalast. Ich bin tief überzeugt, dass wir heute die weltanschaulichen und psychologischen Voraussetzungen dafür haben, die schwere Seite unserer Beziehungen, auf der die aus der Vergangenheit herrührenden gegenseitigen Beschuldigungen verzeichnet stehen, endgültig umzuschlagen, und eine neue Seite in den Beziehungen der beiden christlichen Völker zu beginnen, die vor den gleichen Herausforderungen stehen, die mit der Zerstörung der christlichen Kultur in Europa zusammenenhängen, mit dem Verzicht auf christliche moralische Werte, und davon ist in dieser Botschaft klar die Rede. Wir vertreten die gleichen Standpunkte und verteidigen dieselben Moralvorstellungen, über die wir hier im Kontext der visionären Aussagen des Begründers der Soziologie gesprochen haben.

- Eure Heiligkeit, am 4. November sind es genau 400 Jahre seit der Vertreibung der Polen aus Moskau. In Russland ist das ein Nationalfeiertag, er wird groß begangen werden. Können Sie sich den Text des Gratulationsschreibens aus Warschau vorstellen?

- Ja, das kann ich. Jetzt kann ich es, ähnlich, wie ich mir die Moskauer Grußbotschaft an Warschau im Zusammenhang mit der Wiedererrichtung der Unabhängigkeit und der territorialen Integrität Polens vorstellen kann. Die Sache ist die: wenn die psychologischen Barrieren einmal gefallen sind, wenn die Menschen miteinander in Versöhnung kommen, sind solche Aktionen gut vorstellbar. Ich möchte derweil Ihre Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, dass die Feier des Sieges des russischen Heeres nicht etwa bedeutet, dass wir über den Feind triumphieren. Wir feiern unseren Sieg, nicht ihre Niederlage, nicht ihr militärisches Mißgeschick, denn ein echter Krieger ehrt immer einen würdigen Gegner. Die 400-Jahrfeier unseres Sieges und des Endes der Zeit der Wirren bedeutet ja keine Respektlosigkeit gegenüber der anderen Seite, und ich möchte das noch einmal betonen: das hat nichts mit dem Triumph über ihr Mißgeschick zu tun. 

- Eure Heiligkeit, herzlichen Dank! 

(Pressedienst des Patriarchen von Moskau und ganz Russland)

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